Samstag, 26. April 2014

Die Kirche im Dorf lassen

Man merkt, dass die WM in knapp 1,5 Monaten beginnt. Verschwitzte europäische Journalisten jagen durch Rios Straßen, um verzweifelt irgendwelche Missstände aufzudecken. Mit aller Macht wird die sensationelle Schlagzeile gesucht, die Ländern, wie Brasilien das Recht der WM-Austragung absprechen soll und die WM am besten wieder nach Deutschland verlegt. Da schwirren Killer-Mücken durch die Luft, Schlangen und Kaimane erscheinen vor den Stadien und Krieg herrscht auf den Straßen von Rio. Eine „Terrormeldung“ nach der anderen. Leute, lassen wir mal dir Kirche im Dorf!
Hier werden die immer gleichen Stereotypen bedient: Brasilien ein tropisches Land zwischen Gewalt und Sex (denn die Bikinimädchen werden auch nicht vergessen), zwischen Gefahr und Vergnügen. Da dürfen eben auch die Moskitos, die Tropenkrankheiten übertragen, nicht fehlen. Das ist genauso, wie wenn wir Deutschen ständig mit dem Nazivorurteil leben müssen. Wir wissen doch ganz genau, wie das nervt. Ich glaube, es ist an der Zeit etwas Grundsätzliches zu sagen.
Veranstalter von Sportgroßereignissen versprechen den Bewohnern des gewünschten Standortes immer ein Vermächtnis für alle. Das ist meist so vollmundig, dass dadurch eine sehr hohe Erwartungshaltung wächst. Man hat bei diesen Versprechen das Gefühl, dass eine WM die Kraft hätte ein Land komplett zu verändern. Ich muss enttäuschen: die WM hat diese Kraft nicht!
Deutschland hatte schon vor der WM ein ICE- und ein Autobahnnetz und Städte, wie Hamburg, Nürnberg oder Leverkusen hatten ihre Stadien schon lang vor der WM erbaut. Die Infrastrukturellen Bauarbeiten wären sowieso passiert. In Deutschland hat eine deutsche WM mit deutschen Rahmenbedingungen stattgefunden, in Südafrika eine südafrikanische und in Brasilien wird es eine brasilianische.
Das bedeutet auch, dass man mit den brasilianischen Rahmenbedingungen fertig werden muss. Jedes Jahr zwischen Januar und Mai kämpft Brasilien mit einer Dengueepidemie, da in dieser heißen Regenzeit sich die Moskitos, die die Viren übertragen am besten vermehren. Diese Mücken fliegen in Brasilien einfach so herum und sind schwer zu bekämpfen. Eine langfristige Maßnahme wäre eine Investition in medizinische Forschungsprogramme und nicht in die WM.
Kaimane und Schlangen gibt es auch immer, aber selten im Fußballstadion. Außerdem sind sie nicht wirklich ein Problem. Im Gegenteil, es ist sehr schön diese Natur zu haben. Das hat nichts mit der WM zu tun.
Den Bau von Straßen und Zuglinien an eine WM zu koppeln ist absurd. Ein Staat sollte immer versuchen das Transportsystem zu verbessern. Das Transportsystem ist nicht nur für die WM-Touristen da, sondern in erster Linie für die Einheimischen. Brasilianer stehen oft im Stau, nicht nur bei der WM.  
Schließlich berichtet man im Moment verstärkt über gewaltsame Zwischefälle in brasilianischen Elendsvierteln, wie diese Woche mit dem Tod des Tänzers in der Favela Pavão-Pavãzinho wieder geschehen. Davor gab es die Räumung eines kürzlich besetzten Fabrikareals und die Besetzung der Favela Maré durch Befriedungstruppen. Diese Zwischenfälle führen oft zu Protestaktionen der Bewohner, aufgrund der brutalen Einsatzart der brasilianischen Polizei. Ich habe bemerkt, dass deutsche Zeitungen gerne eine Verbindung zwischen den Protesten des letzten Jahres und den aktuellen Protesten herstellen. Ich muss enttäuschen: eines hat mit dem anderen nichts oder wenig zu tun.
Die Zwischenfälle haben auch nur bedingt mit der WM zu tun. So schlimm es ist, aber Schießereien und Polizeigewalt ist nichts Neues in Brasilien und wird auch nach der WM existieren. Jetzt wird es für ein paar Monate im Ausland bemerkt, aber dann wieder vergessen. Wer hier wirklich was tun will müsste langfristig in die Ausbildung und Ausrüstung der Polizei investieren.
Die aktuellen Unruhen sind die ganz normalen Schikanen gegen untere Bevölkerungsschichten. Die aber durchaus, als eine Art Warnschuss, vor Sportereignissen zunehmen. So war das schon vor den Panamerikanischen Spielen 2007. Die Demos 2013 hingegen waren von Studenten der Mittelschicht und ihren Themen bestimmt. Diese haben tatsächlich das Sportereignis für ihre Anliegen genutzt. Die Bevölkerung in der Favela hingegen wird von der Polizei schikaniert. Wir reden hier von zwei völlig unterschiedlichen Situationen.
2013 hatte auch die Mittelschicht das Vergnügen von der Polizei schikaniert zu werden. Deshalb reflektiert heute die brasilianische Gesellschaft mehr darüber, welche Polizei man haben will und welche Strategie und Aufgaben sie haben sollte. Wenn da was in Gang kommt, dann würde tatsächlich ein Vermächtnis für Brasilien bleiben. Das wäre ein langfristiger Gewinn. Aber solche Veränderungen geschehen in kleinen Schritten und nicht in sieben Jahren WM-Vorbereitung.
Somit ist das einzige Vermächtnis, das ein Gastgeberland erarbeiten kann, ein Imagegewinn, also eine Frage des Marketings. Hier hat Deutschland, denke ich, sehr gut gearbeitet. Ich habe das Gefühl, dass das Image Deutschland mit dem „Sommermärchen“ tatsächlich verbessert wurde. Der Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hatte Erfolg. Er hatte aber auch Erfolg, weil sich die Gäste darauf eingelassen haben. Jetzt ist es auch an der Zeit, dass wir uns darauf einlassen Gäste in Brasilien zu sein. 
Brasilien arbeitet viel mit seinem Image eines freundlichen und feierfreudigen Landes, deshalb der Slogan: „Alle in einem Rhythmus“. Jetzt müssen wir in den Rhythmus einstimmen. Damit will ich die Probleme nicht herunterspielen. Ich will nur klar machen, dass die Probleme nichts mit der WM zu tun haben. Wer helfen will, muss langfristig und weit über die WM hinaus helfen.
Man fragt sich manchmal, was die Kommentare erwarten: Das Brasilien die Sicherheit und die Party der Fans der 31 Gastmannschaften garantiert? Ist das das Vermächtnis einer WM? Ich glaube kaum. Jetzt wird manch einer sagen: und was macht die FIFA. Richtig, die FIFA sollte sich auch an dem Vermächtnis beteiligen und zwar nicht nur mit Streetsoccer-Turnieren und Antirassismus-Plakaten, sondern mit Investitionen in Transport, Bildung und Gesundheit in bedürftigen Gegenden. Also nicht in den reichen Stadtteilen, aus denen die Demonstranten von 2013 waren, sondern in der Peripherie. Und ich möchte noch ein wichtiges Projekt mit einschließen: Brasilien braucht unbedingt eine besser ausgebildete und ausgerüstete Polizei.

Das sind langfristige Projekte, die Brasilien größtenteils selbst in die Hand nehmen muss. Der kurzfristige Gewinn kann nur ein Imagegewinn sein und dazu braucht man die Hilfe der ausländischen Journalisten. Sie dürfen nicht nur hysterisch auf bekannten Stereotypen rumhacken, sondern müssen auch Neues akzeptieren können und darüber kritisch, aber fair, berichten. Und man muss eben auch die Eigenheiten anderer Länder akzeptieren und sich darauf einlassen können. 

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